Nachruf auf Kenneth Grant – 1924 – 2011

Eine Erinnerung

Im Winter 1981 schrieb ein junger Zauberer einen kurzen Brief an Kenneth Grant. Beigelegt war eine Sammlung photokopierter Bilder (vor allem automatische Zeichnungen) und eine ganze Serie Gedichte, von denen der größte Teil an einem einzigen Tag in einem Zustand kompletter Besessenheit verfasst worden waren.  Das ganze wilde Werk war in purpurnen Karton geheftet und nannte sich A Book of Movements. Kenneth Grant war nicht der einzige, der so ein Anschreiben bekam. Doch von allen namhaften Magier, die sonst noch so ein absonderliches Paket erhielten, war er der Einzige, der reagierte. Und am Anfang März kam dann die Antwort. Freundlich, aufmunternd, interessiert an weitern Informationen. Und mit einem dezenten Hinweis auf den Kult von Lam.

Den meisten Lesern von Kenneth Grant ist Lam gut bekannt. Bei Lam handelte es sich um eine, sagen wir mal, außerirdische Wesenheit, die der alte Crowley persönlich portraitierte und deren Bild im Blue Equinox als Illustration zu Madame Blavatskys The Voice of Silence diente. Es erscheint auch in Grants The Magical Revival. Damals, als Crowley schon sehr am dahinsiechen war, hatte Kenneth Grant ihn finanziell unterstützt und darauf das Bild als Geschenk erhalten. Crowley mag Lam erahnt haben, aber dabei blieb es auch. Er konnte mit ihm nicht viel anfangen. Kenneth Grant baute den magischen Kontakt weiter aus und entdeckte, dass Lam sowohl für ihn wie auch für viele andere Magier ein Schlüssel zu den Stillen, Wortlosen Bereichen jenseits des konzeptbehafteten Denkens war. Wenn man das Bild betrachtet, fallen auch sofort der schmale, fest geschlossene Mund und der völlige Mangel an Ohren auf. Darüber hinaus ist Lam der Prototyp für ganze Jahrzehnte von Außerirdischen Darstellungen in Filmen und Cartoons. Der Kopf ist praktisch ein übergroßes Spermatozoon, wir haben es also mit einem extremen Intellektuellen zu tun. Auch hier hatte Crowley mal wieder Pionierarbeit geleistet. Für heutige Verhältnisse mag Lam wie ein lange vertrauter Alien aussehen, aber Crowley konnte davon nun wirklich nichts wissen. Die erste große UFO Welle begann 1947, also erst nach Crowleys Tod.

 

In seinem Brief vom 03.03.1981 erwähnte Grant, dass eine Anzahl von Magiern durch den Kontakt mit Lam zu erstaunlichen Kreativitätsschüben gekommen sind.

Die Anregung fiel auf offene Ohren. Der junge Magier, ja, genau, jenes wirre und überdrehte Geschöpf war ich, machte sich sofort daran ein Lam Portrait in Acryl zu malen und verbrachte etliche Monate mit täglichen Anrufungen. Es war eine äußerst experimentierfreudige Zeit. Denn Lam ließ auf sich warten. Ich verwendete alle Möglichkeiten, die mir damals bekannt waren. Hypnotische Trancen, Ritualmagie, Meditation, Astralreisen, luzides Träumen, Sigillen, Sexualmagie, Musik, stundenlange Hyperventilation, Tanzen bis zur Erschöpfung sowie einige Nächte auf einem Berg im Taunus, während denen ich beim Licht einer Kerze von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang auf das Lam Bild starrte und praktisch alle Emotionalität die ich aufbringen konnte hineinschickte.

Dummerweise passierte nicht sonderlich viel. Ich traf ein paar Mal peripher in Träumen auf Lam, aber besonders viel brachte das nicht. War etwas falsch gegangen? Nun, für jeden echten magischen Kontakt benötigt man nicht nur einen eigenen Aufwand sondern auch ein Entgegenkommen der anderen Seite. Und das blieb aus. Doch die vielen Riten verhallten nicht ungehört. In der Magie geht niemals irgendwelche Energie verloren. Die gesamte Ladung extremer Anstrengung war sogar kontraproduktiv. Wenn man zu sehr versucht, etwas herbeizuzwingen, führt das ganz automatisch zu Verkrampfung. Früher oder später steht man dann unter soviel magischem Druck, dass irgendwas auseinanderfliegt. Mit etwas Glück ist es die eigene Persönlichkeit. Genauso ging es mir. In den folgenden Monaten baute sich derartig viel Ladung auf, dass mein Wesen zunehmend zwanghafter wurde. Die Anspannung ließ mich einfach nicht mehr los. Gleichzeitig entstanden jede Menge Zweifel an mir selbst. Auch das hat seinen Nutzen, denn es reduziert die Starre des Egos.  Mr. Grant, dem solche Krisen nur zu bekannt waren, zeigte volles Verständnis. Sowohl für meine Bemühung wie auch für den darauf folgenden Ausbruch. Bei einem Beltaine Ritual nachts im Wald wurde meine Sicht erst immer dunkler, dann schwarz-weiß und kurz darauf war ich, bei offenen Augen, komplett blind. Vor mir öffnete sich ein roter Strudel. Einen Augenblick lang packte mich die Panik. Vor allem, als der Strudel begann, mich einzusaugen. Doch dann erinnerte ich mich an Austin Spares Mantra: Does not Matter, Need not Be (Macht nichts, muss nicht sein), ich lockerte meine verkrampften Muskeln, atmete ruhig und langsam kam die Sicht zurück. Das war nun wirklich Warnung genug. Ich entscheid ich mich, eine Pause zu machen und schwor, drei Monate überhaupt keine Magie zu praktizieren. Nicht einmal das tägliche Bannen, meditieren, wahrsagen oder sonstwas. Kenneth Grant zeigte sofort Sympathie für diesen Schritt. Es war eine ziemlich schwierige Zeit, denn mehrere Stunden Praxis am Tag waren meine ganz normale Routine.  Ich kam mir komplett offen, schutzlos, aus meinem Rhythmus geworfen und in Äußerlichkeiten gefangen vor. Jeder Praktiker kann sich vorstellen, dass das plötzliche Aussetzen der elementarsten Übungen zu einer ganz anderen Krise führt. Zum einen eskalierten Alpträume, zum anderen versuchten zwei mir bekannte Ordensmagier meine geschwächte Situation auszunutzen. Wie sie später meinen Freunden erzählten, versuchten sie mich astral zu beeinflussen. Nur zu meinem Nutzen natürlich, man kennt das ja. Eine von ihnen war der Ansicht, ich hätte aus dem Wald einen Faun mitgebracht, der ihrer Meinung nach ein schädlicher Waldgeist war. Davon hatte ich Garnichts gemerkt. Und als ich mich dann, der Vorgänge unbewusst, im Traum zur Wehr setzte, waren die Beiden reichlich sauer. Es war also eine reichlich schräge Periode, die erst ihr Ende fand, als ich eine Woche in Korfu Urlaub machte, wo ich einen überraschenden und ziemlich erschütternden Kontakt zu Medusa bekam. Und mit ihr lief alles so, wie es sich Kenneth Grant für Lam erhofft hatte. Nur, dass ich ein wesentlich offeneres Herz für chaotische transdimensionale Schlangengöttinnen, als für eierköpfige Intellektuellendarsteller habe. Was natürlich auch eine Aussage über Vorlieben und Einschränkungen ist. Sorry. Doch egal wie die Form rüberkommt, letztendlich ist es Ein Bewusstsein, dass sich manifestiert und das tut es überall und immer.

Die vielen Lam Rituale waren also, obwohl sie völlig daneben gingen, für meine magische Entwicklung ausgesprochen nützlich. Manchmal lohnt es eben, Fehler zu machen. Allein schon, damit es etwas zu lachen gibt. Übrigens weiß ich heute, dass ich nicht ‚wirklich‘ blind war, sondern das sich meine Augen so extrem nach oben gedreht hatten, dass es mit dem Sehen zeitweilig vorbei war. Aber das habe ich erst später begriffen, als es mir bei einem nächtlichen Spaziergang im Schnee nochmal passierte und ich einen Augenblick Muße hatte, das Phänomen in Ruhe zu erforschen.

 

Von Medusa ging es dann zu Maat. Auch hier war Kenneth wesentlich involviert. Als ich nämlich merkte, dass es mit Lam überhaupt nicht weiterging, empfahl er mir doch ein Werk namens Official Statement on Lam zu konsultieren und wies mich auf eine magischen Zeitung, dem Cincinnati Journal of Ceremonial Magic, hin, die dieses demnächst veröffentlichen würde. Ich schrieb einen netten Brief und legte eine Bildersammlung namens Visions of Medusa bei.

Ich erhielt gleich zwei Antworten. Die eine stammte vom Herausgeber. Er teilte mir kurz und knapp mit, dass das Lam Statement doch nicht erscheinen würde und empfahl mir, Kenneth Grant anzuschreiben, denn der hätte es verfasst. Das andere Schreiben stammte von Nema, die an diesem Tag in der Redaktion zu Gast war, die Bilder sah und sofort Kontakt aufnahm. Nun hätte Kenneth mir das Statement auch als Photokopie schicken können. Was nicht viel genützt hätte, denn als ich es ein Jahr später bei einem gemeinsamen Freund in England las, war ich ziemlich enttäuscht. Aber auf diesem irrationalen und umständlichen Weg entstand die Freundschaft mit Nema und auch dafür bin ich Kenneth dankbar.

Lam kam später noch ein paar Mal uneingeladen in Träumen vorbei. Einmal träumte ich, dass Kenneth ein Buch namens Les Fleurs du Lam schreiben würde. Er war sehr amüsiert von meinem Traum zu hören und antwortete, dass Baudelaires Les Fleurs du Mal jahrelang auf seinem Nachttisch als Einschlaflektüre gelegen hätten.

 

Ich habe heute von Kenneths Tod erfahren. Es ist spät abends, der dunkle Himmel ist bedeckt, die Kälte nimmt zu und einsame Schneeflocken sinken langsam durch die Stille herab. Kenneth hätte die Stimmung gefallen, die Kälte weniger.  Wir waren fast dreißig Jahre in schriftlichem Kontakt. Es gab Zeiten, in denen wir uns häufig missverstanden haben. Manchmal waren wir ausgesprochen anderer Ansicht. Was sich vor allem zeigte, wenn er über bestimmte Themen und Fragen ohne Kommentar hinwegging. Aber wesentlich häufiger waren die Briefe persönlich, herzlich und humorvoll. Schwierig war es gelegentlich in den Achtzigern, in denen es ihm aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen nicht gut ging. Sein damaliger Verleger entschied zu diesem Zeitpunkt, dass okkulte Bücher nicht mehr ins Programm passen und Kochbücher lukrativer sind. Nightside of Eden wurde aus dem Programm genommen und in Bahnhofsantiquariaten verramscht. Da Kenneth das Geld für den Vorschuss für Hecate‘s Fountain nicht zurück zahlen konnte, blieb das gute Manuskript jahrelang unveröffentlicht in den Händen des Verlags. Doch auch ohne einen Verleger in Aussicht schrieb Kenneth weiter. Denn Magie will geerdet werden. Das Schreiben war eine seiner Freuden, doch für die Fertigstellung zum Druck hatte er wenig übrig. Kenneth konnte beim Thema Verleger und modernes Verlagswesen ausgesprochen bissig werden.

Als Hecate’s Fountain dann endlich in den Neunzigern bei einem neuen Verlag erschein, kam es zu einem wirklich unerfreulichen Rechtsstreit. Eine okkulte Organisation verklagte Kenneth Grant und überzeugte den Richter, dass es sich bei Namen des OTO und beim magischen Symbol des Ordens um Trademarks, also Warenzeichen handelt und dass Grant kein Recht hätte, diese zu verwenden. Hecate erschien erzwungenermaßen mit einem beigelegten Flyer, der den erstaunten Lesern erläuterte, dass das magische System, welches in diesem Werk beschrieben wird, wenig oder keine Ähnlichkeit zum Ordo Templi Orientis hat, wie er von Crowley und seinen Vorgängern entworfen wurde und welcher weiterhin gedeiht.

Das ganze leidige Thema wird detailliert mit den relevanten Originaldokumenten in Starfire, Vol 1, n.5, 1994: It’s an Ill Wind That Bloweth… beschrieben. Doch die unfreundliche Aussage auf dem Flyer hatte durchaus einen wahren Kern, denn Grant war tatsächlich weit über Crowleys Lehren hinausgegangen und hierfür wurde ihm der Prozess gemacht.

 

Es ist weitgehend bekannt, dass Grant sich in seinen frühen Büchern selbst als Führer eines OTOs bezeichnete. Nach Crowleys Tod war nicht mehr viel los mit dem Orden. Zusätzlich zu einigen OTO Ablegern der vor-Crowleyanischen Periode überlebte nur ein amerikanischer Zweig des Ordens, der allerdings eine Zeitlang keine Führung hatte. Crowleys alter Sponsor Karl Germer lehnte es ab, Ordensoberhaupt zu werden und blieb auf seinem Posten als Schatzmeister. Grant war in den vierziger Jahren Crowleys Freund und Schüler gewesen, sowie eine Zeit lang als dessen Sekretär tätig. Mit Germers Einverständnis betrieb Grant einen OTO Zweig und als dessen Unterorganisation die Nu Isis Lodge in England.  Nach Grants Aussage war er sich nicht bewusst, dass es zwischen Germer und Eugen Grosche (Frater Gregorius der Berliner Fraternitas Saturni) eine innige Feindschaft gab. Als Grant begann, mit Grosche freundlich zu korrespondieren, wurde er von Germer kurzerhand aus dem Orden geworfen. Wobei sich die Frage stellt, wieweit ein Schatzmeister zu einem Schritt befugt ist, der ausschließlich dem (nicht existierenden) Ordensoberhaupt vorbehalten war. Unbeeindruckt von diesem Vorgang praktizierte Grant also weiter und die Nu Isis Lodge umfasste während der späten fünfziger und frühen Sechziger etwa dreißig mehr oder weniger enge Mitglieder. Nach Germers Tod unterhielt Grant eine distanzierte aber respektvolle Beziehung zu Grady McMurtry, der zum neuen Oberhaupt des amerikanischen OTO geworden war. Die beiden hatten sich kurz vor Crowleys Tod in England kennen gelernt. Die Rechtstreitigkeiten der frühen Neunziger waren für Kenneth also eine überraschende und schmerzhafte Erfahrung. Sie brachten ihm zwar die Sympathie vieler kreativeren Magier ein, aber auch die Belastung, sich mit den Prozesskosten herumzuschlagen. Seine Organisation bezeichnete er in Zukunft notgedrungen als Typhonischen Orden.

 

Als Germer Grant aus dem OTO zu werfen versuchte, regte er ihn vor allem zu noch größerer Kreativität an.  Grants Reaktion bestand darin, in seinen Büchern ein Ordensgeheimnis nach dem anderen zu veröffentlichten und das bisherige Material komplett überarbeitet mit vielen neuen Einflüssen zu beleben. Indem er als erster westlicher Magier im großen Stil authentischeres Tantra, Daoismus und Voodoo praktizierte, zeigte er sich wesentlich innovativer als viele andere Nachfolger Crowleys. Crowley hatte einen Anfang gemacht, in dem er als magischer Pionier Themen wie Yoga und Daoismus in die europäische magische Tradition einbrachte. Doch Crowleys Kenntnisse in diesen Bereichen waren äußerst beschränkt. Nach eigener Aussage praktizierte er nur wenige Wochen lang Yoga und wenn er den Daoismus kommentierte, ging es ihm in erster Linie darum, seinen eigenen Kult von Thelema in den Worten von Laozi wiederzufinden. Kurz vor Crowleys Tod gelang es Grant, einen modernen tantrischen Kommentar zu spezifischen Riten des Ṡrī Vidyā Kultes (in einer Version vor der puritanischen Reform um 1600) von David Curwen zu erhalten. Grant lieh dem bereits dahinsiechenden Crowley das Manuskript, der voller Erstaunen feststellen musste, wie lückenhaft seine Kenntnisse zur Sexualmagie gewesen waren. Es blieb ihm keine Zeit mehr, das neu gelernte in die Praxis umzusetzen oder zumindest schriftlich zu verarbeiten. Grant integrierte das Wissen dieses Kommentars in seine eigenen umfangreichen tantrischen Studien und Praktiken und  machte möglich, wovon Crowley nur geträumt hatte. Gleichzeitig reduzierte er die freimaurerischen Elemente seines Ordens und mit ihnen viel Material, dass Crowley noch vom hermetischen Orden des Golden Dawn übernommen hatte. Stattdessen integrierte er ein weites Spektrum internationaler magischer Systeme, Symbole und Modelle, wie Austin Spares Zos Kia Magie, Nemas Maat Magick, Lovecrafts Alten Wesen, die Tunneln der Qlippoth, Advaita Vedānta sowie Chan (Zen) und Mādhyamaka Buddhismus; alles in allem geniale Leistungen, die Thelema in ganz neue Bereiche katapultierten. All diese Themen werden in seinen Büchern immer wieder mit tiefer Einsicht präsentiert. Hiermit eröffnete er allen Enthusiast/innen die Chance, in Eigeninitiative zu experimentieren. Seine Nu Isis Lodge und der darauffolgende Typhonische Orden existierten weiter, aber anders als in etlichen ähnlichen Organisationen war das Programm auf einem Rhythmus zwischen eigenständigen, selbstgewählten Projekten und traditionellen Übungen aufgebaut. Wer also in Grants Organisation vorankommen wollte war meistens genauso auf sich selbst gestellt wie alle begeisterten Leser seiner Bücher. Ein formeller Unterricht fand nicht statt und Gebühren wurden auch nicht verlangt. Und da es nicht vorgesehen war, dass die Mitglieder sich kannten oder regelmäßig trafen, stand es allen Beteiligten frei, sich auf die eigene Entwicklung zu konzentrieren. Denn Grants Organisation sollte weder ein Familienersatz noch ein Theoretikerclub werden. Gruppendynamische Prozesse und persönlicher Tratsch sollten soweit wie möglich ausgeschlossen werden. Natürlich hatte diese Strategie die Folge, dass die Mitgliederzahl des Ordens sehr gering blieb. Doch Grants Bücher ermöglichten es, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte die Zahl der eigenständigen und unabhängig praktizierenden Thelemiten ständig anstieg. Genauso wollte Grant es. Sein Orden hatte hier vor allem den Zweck, eine Mystique darzustellen. Für viele angehenden Magier/innen ist es eine große Versuchung, sich mit den imaginären Mitgliedern eines gut organisierten exklusiven Adeptenkreises zu vergleichen, egal ob dieser nun existiert oder nicht und mindestens genauso gut zu werden. Hier geht es um Motivation. Hiermit behielt Grants Typhonischer Orden seinen Nutzen, sowohl für die Handvoll von Mitglieder wie für die vielen freischaffenden Magier außerhalb.

 

Mit den Büchern war es natürlich nicht ganz einfach, denn Grant wollte des Öfteren nicht wörtlich genommen werden. Viele der Anekdoten in seinen Werken, vor allem in Hecate’s Fountain, sollten als traumhafte, surrealistische Visionen verstanden werden, als Beschreibung innerer Vorgänge während extremer Trancezustände und als Gleichnisse, die mehr andeuten, als definieren. Manchem Leser ist Kenneth Grant als ein eher schwieriger, kryptischer Autor bekannt, der problemlos seitenlang Gematria, also qabalistische Zuordnungen analysieren konnte und ausgesprochen Spaß daran hatte, wie eine Spinne obskure Verbindungen, Ähnlichkeiten und Resonanzen zu verweben. Es war ein Teil seines Genies, anhand solcher Gewebe eine tiefere Ebene der Erkenntnis zu suggerieren. Genau hier wurde er oft missverstanden. Viele Leser sahen seine qabalistischen Analysen als einen schwachen Versuch, auf ziemlich irrationale Weise die Identität der unterschiedlichsten Ideen zu beweisen. Doch um Beweise und Rationalisierungen ging es Kenneth nur selten: viel wichtiger war es ihm, dem Unbewussten geeignete Anregungen zu vermitteln, ein eigenes, völlig subjektives magisches Universum zu erschaffen und erleben:

Wie du vermutest, sind die Zahlen ein Mittel, der Psyche verwandelnde Information einzuflüstern. Die Shakti (Bewusstheit in Form/Energie A.d.Ü.) ist in der Zahl, welche danach als Index zu jener Region der Psyche, in die die Information hinab gesunken ist, dient. Daher ist Gematria ein kreatives Werkzeug, nicht bloß ein lexikales Lîla (Spiel. A.d.Ü) (‚nur eine Geschichte‘) wie es viele Leute anzunehmen scheinen. Dein Ausdruck ‚Traumsaat‘ fasst bündig ihre wahre Natur und ihren Zweck zusammen. Was Zahlen den ‚Geschichten‘ voraus haben ist, dass die bloße Erwähnung einer Zahl die Geschichte beleben und wiederholen kann, ohne dass sie neu erzählt werden müsste. (Brief vom 07.05.1995 )

 

Nur wenigen Menschen ist bewusst, was für ein herzlicher und humorvoller Mensch Kenneth Grant war.  Dank der nötigen Distanz ließ er sich ganz offen auf ein weites Spektrum an Themen ein und verblüffte mich regelmäßig mit seinen erstaunlichen Erkenntnissen.

Vielleicht hat es geholfen, dass ich nie versucht habe, seinem Orden beizutreten und er nie versuchte, mich dazu aufzufordern. Dies zeigt, dass er ein guter Menschenkenner war, denn für Orden bin ich nun mal nicht geeignet. Er war es eigentlich auch nicht. Stattdessen ermöglichte diese formlose Situation, dass er ganz frei über seine Empfindungen schrieb und gelegentlich Scherze über seinen Orden machte.

 

Grant war der erste europäische Magier, der offen und deutlich seine Quellen angab, seine Hintergründe vermittelte und damit die Schweigegelöbnisse diverser Geheimniskrämerclubs unterwanderte. Mir erzählte in den Achtzigern eine erboste Ordensführerin, dass er dafür schwere karmische Strafe erhalten würde. Doch Grant spürte nur zu gut, dass die Zeit der organisierten Orden zu Ende geht. Am 21. 07. 2003 ev schrieb er, dass die Publikation von Liber Okbish eine ganze Unterwelt an Frauen offenbart hätte, die ihre Fähigkeit als Seherinnen unter Beweis stellen wollten.

Es ist zunehmend deutlicher geworden, dass die Tage der Patriarchalischen Orden am ausklingen sind und die zukünftigen Kandidaten für Magische Aktivitäten sind ganz präzise in den Schoß der Göttin gependelt. Diese Bewegung war sehr in Grants Interesse, auch wenn er befürchtete, die magische Strömung könne an den Ufern eines vage intellektuellen-sprich-Wicca Morasts verebben.

Hier sei angemerkt, dass Grant ein völlig anderes Verständnis von magischen Frauen hatte als Crowley und die verkalkten Gründungsväter des neueren europäischen Okkultismus. Aber es geht hier nicht nur um geschlechtliche Gleichberechtigung sondern auch um das Recht auf Wissen.  Information ist heute überall verfügbar. Wer braucht schon einen Orden, der einem Grad für Grad ein paar neue Erkenntnisse zukommen lässt, von denen die meisten schon Jahrzehnte bis Jahrhunderte zuvor veröffentlicht wurden?

 

Das ganze Ordens Hick-Hack hatte später noch ein unangenehmes Nachspiel. Eine anonyme Person veröffentlichte ein handschriftliches Dokument, in dem der alte Crowley dem jungen Kenneth zum Führer des OTOs kürte. Wunderschön gemacht, komplett mit Siegel auf gut vergilbtem Papier. Sofort wurden Graphologen herbeigezogen, die einige Probleme mit der Handschrift Crowleys hatten (denn die schwankte, entsprechend der Drogen die er gerade nahm oder abgesetzt hatte). Das erstaunliche Dokument war freilich nur als digitales Wunderwerk vorhanden und wurde vermutlich in zehn Minuten mit Photoshop zusammengezaubert. Während einige prominente Okkultisten die Gelegenheit zu einem Publicitystreit nutzten, erkannten die meisten sofort, dass es sich um eine äußerst peinliche Fälschung handeln musste. Kenneth war der ganze Rummel völlig zuwider.

 

Wer Kenneth Grant verstehen will, muss seine Bücher mit dem Leben in Bezug setzen. In den fünfziger Jahren waren Kenneth und Steffi Grant begeisterte Surrealisten. Und auch in unserem Briefwechsel erwähnte er häufig Dalís Methoden, die Wahrnehmung zu verzerren um sie neu zu gestalten. Doch bei Kenneth ging es mehr als um Bilder. Wenige wissen, das Kenneth mehrmals (!) freiwillig (!) und mit viel Freude (!) James Joyces Finnegans Wake verschlungen hat. Und das ist wirklich ein harter Brocken. Doch hier geht es nicht nur um Kunst und Literatur, denn die Grundlage des Surrealismus basiert auf magischem Denken. Breton war der Erste, der darauf hinwies, dass sich Surrealismus ereignet, wenn komplett verschiedene Dinge in einen irrationalen Kontext gebracht werden. Wenn ein Regenschirm und eine Nähmaschine sich auf einem Operationstisch treffen, entsteht im Bewusstsein des Betrachters sofort eine Geschichte. So funktioniert das menschliche Gehirn: wir alle sind magische Wesen, die sich in einem Fluss von Mythen, Phantasmen, Glauben und Geschichten bewegen. Die eigentliche Magie, also die Kunst die ‚Illusion‘ in ein Kunstwerk zu verwandeln, besteht darin, die Innenwelt und Außenwelt unter Willen zu verschmelzen. Und wenn man sich ansieht, was für Objekte sich zum Beispiel auf einem Voodoo Altar finden (oder in jedem Winkel einer gut ausgerüsteten Magierwohnung), der merkt bald, dass schon die einfachsten Talismane, Pflanzenbündel und Sammlungen magischer Objekte perfekte surrealistische Kunstwerke sind. Und umgekehrt, dass ein gutes surrealistisches Gemälde ein Werk der Magie ist.

Und das gilt für praktisch alle kompetenten Magier/innen. Helena Blavatsky schuf hervorragenden Surrealismus, als sie ihre absonderliche Geheimlehre verfasste. Als echte Recherche kann man ihr Werk nun wirklich nicht bezeichnen, aber als inspirierendes Kunstwerk war es magisch genug, mehrere Generationen prominenter Okkultisten, Philosophen und Freidenker zu inspirieren.

So ähnlich ist es auch mit Kenneth Grants drei Trilogien, nur dass diese besser recherchiert und wesentlich düsterer sind. Doch auch hier ist die Frage nach ‚Realität‘ irrelevant. Denn wer mit Fakten Magie zu messen sucht, vergisst, dass wir alle in unseren eigenen irrationalen und subjektiven Welten leben. Hier zeigt sich ganz deutlich Kenneth Grants Humor. Denn wenn ihm danach war, konnte er neben hervorragenden Forschungen auch völlig schwachsinnige Quellen zitieren. Nicht, weil er diese respektierte, sondern weil das Ergebnis einfach gute Kunst war. Denn oft ging es ihm nicht um faktische Wahrheit sondern um suggestive Wirkung.

 

Kenneth Grants Bücher sind keine intellektuellen Studien und sie handeln auch nicht von magischer Forschung. Es ist einfacher, sein immer noch lebendiges Genie zu verstehen, wenn man bedenkt, dass der Nutzen eines Buches seine Wirkung ist. Grant schrieb nicht für Theoretiker. Es ging ihm um eine präzise magische Verzerrung der Wahrnehmung, die letztendlich die aktiv teilnehmenden Leser aus jener Verblendung befreit, welche von normalen Menschen für Realität gehalten wird. Kompetente Leser/innen lernen durch Grants Werk die Alltagswelt in ein dramatisches, magisches Universum umzuformen. Und dieses Universum lässt sie oder er hinter sich, um Absolute Realität (anuttara) zu erreichen. Denn jenseits der Schrecken und Triebe der Nachtseite liegt ein Bereich, in dem Ästhetik frei wählbar ist und du und deine Welt genauso sein können, wie es der wahren Selbstnatur entspricht. In dieser Hinsicht sind Grants Bücher keine okkulten Studien sondern Initiationsmaschinen.  Grant hatte kein Verständnis für Forscher, die versuchen einen ‚objektiven‘ Standpunkt einzunehmen und okkulte Schwätzer, die einfach nur reden, statt täglich ihre Magie zu zelebrieren, waren ihm ein Greul. Auch über das Internet und jede moderne Technologie jenseits des Kassettenrekorders hatte er wenig Gutes zu sagen. Seiner Meinung nach ist die derzeitige technologische Überladung der Sinne ein Faktor, der Menschen unsensibler und dümmer macht.  Für Theoretiker hatte er kein Verständnis, denn Magie will gelebt werden, wenn es darum geht die wahre Selbstnatur zu entdecken und entfalten. Was nicht heißen soll, dass er nicht auch mit Akademikern klar kam. Seine lange Freundschaft mit dem Musikethnologen John Levy, der in Taiwan und Bhutan an Ritualen teilnahm, ist hier ein gutes Beispiel. Denn ein guter Forscher, der um die eigene Subjektivität weiß und teilnehmend beobachtet, betreibt selber Magie und wird von seinem Forschungsthema transformiert.

 

Es ist schwer, Kenneth Grant als Mensch zu beschreiben, denn viel von seiner Magie war darauf gerichtet, sich selbst im Hintergrund zu halten. In seinen Briefen blieb Kenneth zwar herzlich aber dennoch auf Distanz, das Alltagsleben und die persönliche Geschichte kamen nur selten zur Sprache. Zu dem Zeitpunkt, an dem unser Kontakt intensiver wurde, war Grant bereits sehr vorsichtig geworden. Jahrelanger Ordens-Hickhack hatte ihn dazu gebracht, sich nur selten in der Öffentlichkeit zu zeigen. Seine Briefadresse war immer ein Postfach, an persönlichen Treffen mit Magiern hatte er, nach einigen sehr schlechten Erfahrungen, bereits in den frühen Achtzigern kein Interesse mehr. Zuvor hatte es einige unangenehme Zwischenfälle mit diversen Spinnern gegeben, sowie mit Magiern, die von ihren Organisationen den Auftrag hatten, möglichst viel über sein Privatleben auszuspionieren. Kenneth lebte also ganz privat und zurückgezogen an einer äußerst geheimen Adresse, die mir und einer ganzen Reihe meiner Freunde und Bekannten natürlich bekannt war. Sowas wird einfach weitererzählt. Doch keiner von uns hätte die Unhöflichkeit gehabt, ihn einfach zu besuchen oder einen Brief direkt dorthin zu schicken. Auch der Verzicht auf einen allzu persönlichen Kontakt kann auch eine magische Handlung sein. Er verhindert ein abgleiten in langweilige Alltagsgeschichten, Arbeits-stories, diverses Gejammer und allzu menschlichen Klatsch.  Und es sorgt dafür, dass alle Beteiligten sich um die wirklich wichtigen Dinge kümmern, nämlich um die eigene spirituelle Entwicklung, statt sich persönlichen Phantasmen, Wunschdenken, Heldenverehrung und sonstigem Unfug hinzugeben. Crowley hat nur zu deutlich demonstriert, dass ein intensiver Personenkult zwar zu einer gewissen Berühmtheit führt, aber auch reihenweise Menschen anzieht, die sich aus rein egoistischen Gründen aufdrängen. Nur mal so als Beispiel: es gab bereits in den Achtzigern mehr als fünfzehn Magier, die von sich behaupteten, der wiedergeborenen Aleister Crowley zu sein. Keiner von diesen war auch nur halb so originell wie das Original, aber etliche hatten seine schlechten Gewohnheiten geerbt. Und auch die wiedergeborenen Spares (einer von ihnen versuchte Grant zu drängen, ihm die Spare Korrespondenz auszuhändigen) scheinen als Künstler nicht sonderlich bekannt zu werden. Grant wollte auf keinen Fall von irgendwelchen Leuten zum Vorbild genommen werden. Ihm war es wichtig, dass seine Leser unabhängig ihren eigenen Weg gehen. Denn genau das ist die Essenz von Thelema. Bereits in den allerersten Briefen, die ich von ihm erhielt, lag die Betonung auf individueller Forschung.

Ich habe in meinen Büchern viele Methoden beschrieben, wie man Kontakt mit astralen und anderen Entitäten herstellen kann. Wenn du irgendeine dieser Techniken konsistent anwendest wirst du nicht darin versagen, Kontakt zu bekommen. Du solltest eine grundsätzliche Formel nutzen und deine eigene Technik entwickeln. Es gibt keinen anderen Weg. (11.05.1981 e.v.)

Genau diese Betonung der eigenen Forschung, Entwicklung und Verzauberung ist es, die Kenneth Grant so aus der Welt der traditionellen Magier heraushob.

 

Den meisten Lesern Grants Typhonischer Trilogien ist vor allem das großartige Feuerwerk an finsteren Andeutungen, obskuren Quellen, fantastischer Anekdoten und praktischer (surrealistischer) Qabala bewusst. Doch Grant selbst stand, mit einem feinen Lächeln, weit hinter diesem Spektakel. Für ihn waren die praktischen magischen Riten, Trancen und Zaubereien vor allem ein Weg zur Transzendenz. Für ‚Erfolgsmagie‘ hatte er im Laufe der Jahre immer weniger übrig. Seine Ansicht hierzu entwickelte sich im Laufe der Jahre entlang der klassischen Lehren des Advaita Vedānta, die Absolute Realität als formlos, zeitlos und undefinierbar empfinden. In dieser Weltsicht ist alles, was Form hat, Illusion: Realität zu erfahren bedeutet, die Welt der Formen loszulassen und ins Nichts einzugehen. Darin liegt die Absolute Freiheit des Seins.

In meinen letzten Büchern könntest du eine Tendenz bemerkt haben, mehr und mehr den Wert eines objektiven Zugangs zu hinterfragen. Ich hoffe, du stellst dir hierbei nicht vor, dass dies die letzten Stufen des Alterungsprozesses sind, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der einzige Wert der Magic(k), wenn sie ernsthaft ausgeübt wird, darin besteht, die Dinge als illusionär zu offenbaren, sogar einschließlich des Konzepts des Magiers. Daraus sollte man nicht ableiten, dass wir mit dem aufhören, was wir immer getan haben, aber wir sollten es fortan ausführen, ohne den Taten einen Urheber zuzuordnen – so wie ein Baum seine Blätter abwirft, ein Dichter seine Gedichte, ein Orakel seine Omen. (12.01.1996 e.v.). An diesem Punkt gingen unsere Ansichten auseinander, auch wenn wir die Angelegenheit nicht näher diskutiert haben. Kenneth zielte meistens (aber auch nicht immer) darauf hin, die normalen Illusionen des täglichen Lebens mit magisch relevanten Illusionen zu ersetzen, zu erkennen, dass es nur Ein Bewusstsein ist, welches die Welt der Formen erzeugt und erhält und sich letztlich von diesen zu befreien. Stark vereinfacht ging sein Weg von der Vielfalt zur Einheit zum Nichts. Ich tendiere eher zu der Erfahrung, sowohl die Leere wie die Welt der Formen, inklusiver aller Illusionen, als Selbst-Erleben des Einen Bewusstseins und somit als in sich real zu betrachten (das entspricht in etwa der Grundeinstellung der Krama Tradition Kaschmirs.) In meinem Weltbild ist Transzendenz überall und nirgends möglich und Absolute Realität erscheint sowohl in allen Formen wie in völliger Leere. Vermutlich irren wir uns beide und irgendwo ertönt jetzt ein Lachen.

 

Wenn Kenneth also über Magie schrieb, ging es ihm weniger um das erzielen konkreter Resultate oder um das Verändern einer ‚objektiven‘ Realität, denn so etwas gab es seiner Ansicht nach ohnehin nicht. Der Initiationsprozess beginnt in erster Linie mit einer magische Re-interpretation des täglichen Lebens. In einer ausgesprochen deutlichen Passage schrieb er:

Ja, ich habe Nachbarn – deshalb schreibe ich – um von ihnen weg zu kommen; um von ihnen weg zu kommen, um alles zu bannen was sich zwischen mich und die Äußerlichkeiten stellt, um diese (die Äußerlichkeiten) mit einem Terrain meiner eigenen Begierden zu ersetzen, ewig in Bewegung, in Veränderung, im Verschmelzen von einem in zwei, in drei, in vier…Ich kann zu fernen Wiesen entkommen, zu weit ausgedehnten Konstellationen – ohne dafür ein Fahrrad oder auch nur ein Raumschiff zu benötigen. Und wenn mir danach ist Voodoo Trommeln zu schlagen dann tue ich es, ohne ein Geräusch zu machen, verführe die großartigsten Darlings – ohne Geschrei zu erwecken, segele zu den Sternen oder sinke in die Tiefen – ohne dass es jemand bemerkt oder sich darum kümmert… (29.09.2001 )

Das alles klingt zunächst nach Tagträumen, aber ganz so einfach ist das nicht. Denn derartige imaginative Trancen sind seit anderthalbtausend Jahren Teil der fortgeschrittenen Meditationen diverser tantrischer Systeme und gelten sowohl als spirituell relevant wie auch als magisch effektiv. Denn hier geht es nicht darum eine (unangenehme) Realität durch einen intensiven Wunschtraum zu ersetzen. Es geht darum, eine Illusion mit einer relevanteren zu ersetzen. Wenn deutlich wird, dass jede Illusion in eine andere verwandelbar ist, offenbart sich ein Weg, über beide hinaus zu gehen.

Denn jenseits von allen Formen und Erscheinungen ging es Grant um reines Bewusstsein. Dieses mag sich auf die eine oder andere Art offenbaren, aber was zählt ist das direkte Erleben der Einen Bewusstheit jenseits aller Form.

…du scheinst deine ‚magische Geschichte‘ in verschiedenen Gottformen zu externalisieren, während diese für meine Wahrnehmung bloß als kristallisierte episodische Bewusstseins-Bewegungen erscheinen. Ich glaube, dass alles aus Bewusstsein gemacht ist und wenn es, oder sie, mit den verschiedenen Aspekten der eigenen Vergangenheit übereinstimmen, erkennt man sie – ansonsten vielleicht verbleiben sie unsichtbar und spuken genau jenseits unseres Wissensbereichs. (…)

Ich glaube wirklich, dass es jetzt Zeit ist, darüber hinaus zu gehen, oder eher, in diese ‚Formen‘ hinein zu gehen, egal ob es sich um Götter oder menschlich/animalische Entitäten handelt und zu erkennen dass ihre Substanz nur aus Bewusstsein besteht. Jedes Lebewesen und sogar alle leblosen Objekte sind im Grunde ausschließlich Bewusstsein. So ist alles im subjektiven oder objektiven Universum wahrhaftig gleich. Der nächste Schritt besteht darin, die Formen abzuschaffen, durch die Realisierung, dass es außerhalb des Bewusstseins keines dieser Phänomene gibt. Die Weltenbühne steht bereit für eine gewaltige Zerstörung dieser Illusionen. (21.04.2002 )

Auf dieser Ebene betrachtete Kenneth die Götter, Geister, Alte Wesen ganz genauso wie seine Mitmenschen, nämlich als Manifestationen von Einem Bewusstsein. Und immer wieder ging es ihm darum, die Form zu verlassen und in das Eine, Leere, Unbegrenzte Sein aufzugehen.

Die Götter haben, natürlich, auch ein Ego – das der Person, die ihnen Fleisch verleiht oder ihr Potential aktiviert. Aber ich glaube, dass es ein Fehler ist, Ego als eine Entität zu betrachten, wenn es sich hierbei nur um eine Identitätsverwechselung des Körper-Geist Komplexes mit dem Selbst handelt, welches selbst NICHT ist. (22.02.2001 )

 

Und hiermit findet alles seinen Abschluss. Jenseits der Kreise der Zeit, durch den Neunten Bogen und die Äußeren Durchgänge. Die jungen Jahre mit Crowley und Spare, die Gruppenrituale mit der Nu Isis Lodge, die Ordensjahre und zuletzt ein zurückgezogene Leben als einer der originellsten und kreativsten Magier seines Jahrhunderts. Schon um die Jahrtausendwende war sein Gesundheitszustand so geschwächt, dass der Gedanke an den Abschied nahe lag. Etwa um 2005 herum hatte er kaum noch die Energie, unseren Briefwechsel aufrecht zu erhalten und beschränkte sich auf ein absolutes Minimum an Kommunikation. Mit seinen Reisen ins sommerliche Wales war es vorbei. Und auch Naturkontakte waren nur schwer zu halten. Als Kenneth und Steffi Grant ihr kleines Haus erwarben, lebten sie noch in der Peripherie der Großstadt, in einem wohlhabenden Viertel, umgeben von Parks und offenen Räumen. Doch London war in der Zwischenzeit zu einer monströsen Wucherung geworden, deren Lebensfeindlichkeit und deren bleiche Zombie-Bewohner Kenneth des Öfteren beklagte (oder eher beschimpfte). So blieb ihm wenig Lebensraum außerhalb der eigenen, gut mit Büchern isolierten vier Wände und dem Gärtchen hinter dem Haus.

Wenn ich die meisten Straßen heruntergehe knirsche ich mit den Zähnen und murmele AL.II.25. Das gibt mir neue Hoffnung und stärkt meinen Willen ohne Ende. Ich habe, in der Nähe meines Hauses, ‚einige ruhespendenden, grünen Orte‘. Unter ihnen ein Wiesen- und Waldgebiet bei Hampstead und, besser als alles, einen Rosengarten in Regents Park, nur eine kurze Fahrt entfernt, wo man an einem glühenden Juni oder Juli Tag erfrischenden Schatten und den Duft der vollerblühten Rosen suchen und finden kann. Sie erfüllen die ruhende Luft mit einem Duft der beinahe außerirdisch ist. Die Anlage  ist kreisförmig und wenn es keine Wolke gibt ist die umgedrehte blaue Schale des Himmels ein wahrhaftiger Traum. Solche Morgen bleiben nur im frühen Sommer jungfräulich – das heißt, vor dem jährlichen Urlaubsbeginn – wenn irgendein Eindringen in den magischen Kreis unvermeidlich ist.  (23.08.1999 )

Kenneth sah seine Zukunft schon damals deutlich voraus. Er sagte gern, dass jedes Buch ein weiteres nach sich zieht und dass er sein Lebenswerk nie vollenden würde. Doch gerade mit dieser Einstellung schuf er wesentlich mehr, als es den meisten vergönnt ist. Und besonders in seinem letzten Jahrzehnt, welches von schwerer Krankheit geprägt war, lebte er mehr hinter seiner prähistorischen manuellen Schreibmaschine und in seinen Büchern als in der Außenwelt, die ihn nur noch interessierte, wenn sie magisch für ihn relevant war. Seine Erinnerungen wurden immer mehr zum Leitmotiv seines Erlebens, oder besser, sie dienten dazu, die Gegenwart mit früheren Fetischen, Symbolen, Besessenheiten und prägenden Erfahrungen zu beleben. Auch Nostalgie kann eine relevante magische Formel sein, wie Kenneth schon bei seinen Bemerkungen zu Proust hervorhob. Gönnen wir ihm das letzte Wort und wünschen wir ihm einen guten Weg.

Das Ego, die Illusion des individuellen Selbst, wird nicht durch den bloßen Akt des Sterbens entfernt, denn dieses (das Ego, A.d.Ü.) ist die Tendenz sich mit einem Körper irgendeiner Art zu identifizieren, daher ergreift das Ego automatisch einen neuen wenn der letzte verstirbt, AUSSER der Sterbende ist imstande zu versterben während er das Ego bewusst aufgibt – eine gewollte Handlung, schwierig auszuführen, außer wenn dem Pfad zur Erleuchtung während des vergangenen Lebens gefolgt wurde. In diesem Fall gibt es eine Chance während des Todes ins wahre Sein überzugehen. Frag die Erwachten! (22.02.2001)